Projekt Beschreibung

Wirtshaus Steirereck am Pogusch/Österreich

Jeder Gang ein Wahnsinn, selbst der zur Toilette
Man muss verrückt sein, um irgendwo in der Pampa, in einem Haus aus dem Jahr 1616 ein Wirtshaus aufzumachen – und das dann auch noch von Montag bis Mittwoch zuzusperren. Oder man ist genial. Der Familie Reitbauer ist mit dem Steirereck am Pogusch solch ein Geniestreich gelungen, profaner gesagt eine sprudelnde Umsatzmaschine. Lest selbst, was dort alles anders als bei allen anderen gemacht wird.

Ins Grübeln kommt man schon auf der langen Hinfahrt. Von Graz aus erst mal eine Stunde auf der Autobahn, dann ewig durch die Pampa. Mit Kindern brauchst da gar net hinfahren, fällt einem ein. Und Fragen drängen sich auf: Wer fährt da überhaupt hin? Kann an einem so abgelegenen Standort überhaupt was los sein?
Doch die Leute in der Steiermark hatten alle gesagt: „Ins Steirereck, da muaßt hin! Aber ohne Reservierung brauchst gar net hinfahren.“ Also hatte ein bekannter Winzer, der den Wirt Heinz Reitbauer kennt, für uns angerufen. „Koa Chance, nix zu machen“, hieß es zuerst. Und dann auf Bitten und Drängen. „Na gut, sollen’s kommen. Zwei Personen. Aber net vor 16 Uhr.“ Und das, wohlgemerkt, an einem Wochentag!

Erster Eindruck bei der Ankunft:
Da ist was los. Da ist Gott und die Welt da. Und den Autokennzeichen – vom Ferrari bis zum Käfer – nach zu urteilen halb Wien. Gleich neben dem Parkplatz ist übrigens ein Hubschrauberlandeplatz!

Zweiter Eindruck:
Respekt: Hier wird der Gast bedient, bevor er bestellt hat. An unseren Plätzen stand zur Begrüßung ein Holzbrettl mit einem großen Stück Paprika-Speck, daneben ein Körbchen mit frischem – selbstgebackenen – Brot und ein scharfes Messer! Glaubt Ihr, im Steirereck rufen die Neuankömmlinge genervt: „Was soll das! Das hab‘ ich gar nicht bestellt.“ Zwar ist kein Gast gezwungen, den leckeren Speck und das resche Brot zu probieren. Aber nach der langen Fahrt… Der Speck kostet übrigens umgerechnet 10 Mark. Wer nur die Hälfte isst, zahlt auch nur die Hälfte. Man kann aber auch die eine Hälfte essen und sich die andere einpacken lassen.

Geneppt wird der Gast im Steirereck nie, zum Konsum eingeladen, verführt, verleitet ständig – praktisch in jeder Minute des Aufenthalts. Das Konzept lässt sich mit zwei Worten beschreiben: Uferlos verkaufen. Das Geniale daran ist, dass sich die Gäste dabei so richtig glücklich fühlen.

Mit durstiger Kehle braucht kein Gast lange am Speck zu kauen, denn die Service-Mitarbeiter sind auf Zack. Während der urigen Brotzeit hat man Zeit, sich umzuschauen. Den Blick auf die Speisekarte kann man sich schenken. Im Steirereck wetzen die Bedienungen nicht gehetzt mit Tellern zwischen den Tischen herum. Das Essen wird mit Stil in Steigen serviert. So sieht jeder Gast, was die anderen bestellt haben. Da läuft einem das Wasser ständig im Mund zusammen, wenn man beispielsweise das leckere Backhendl mit Holzkörbchen sieht, toll angerichtet und mit Zweigen dekoriert.

Zu manchen Gerichten gehören bekanntlich Soßen. Die werden im Steirereck extra serviert – mit der Schöpfkelle aus dem Millipitcher. Weil wir die Idee so genial finden, wiederholen wir den Satz. Stellt Euch vor: Im Steirereck kommen die Soßen extra. Die Bedienung geht mit dem Milchkandl zu den Tischen und schöpft die Soße mit der Kelle. Das sorgt bei den Gästen jedes Mal für Aufsehen und Gesprächsstoff. „Da schau hin, jetzt wird wieder die Soße kredenzt.“
Die Gespräche unter den Gästen laufen in der Regel so ab: „Da, schau hin.“ „Schau mal, dort.“… „Schau mal hoch, da sind ja Ziegen auf dem Dach.“ „Wahnsinn, schau mal, was die für einen tollen Kaswagen haben.“ „Schau mal, wo die das Wasser holen.“ Im Steirereck gibt es immer was zu schauen, permanent ist etwas los. Der Gast hat keine ruhige Minute, alle seine Sinne werden ständig Reizen ausgesetzt.

Man mag das Erlebnis-Gastronomie nennen. Dabei laufen im Steirereck keine jodelnden Wirte oder tanzenden Bedienungen rum! Das Ambiente ist rustikal, aber nicht einengend und bedrückend, sondern großzügig, zum Beispiel mit hohen Decken. Der Erlebnis-Charakter bezieht sich auf den Kern des gastronomischen Angebots, auf die Art, wie Speisen und Getränke in den Mittelpunkt gerückt und offensiv-originell verkauft werden.
Was das Besondere am Wasser im Steirereck ist? „Unser frisches Wasser kommt aus der Hausquelle, die am Himmelreich entspringt und an der Gurgel gefasst wurde“, heißt es bei der Familie Reitbauer. Und der Gast kann natürlich zuschauen, wie das Glas Wasser vom Zapfhahn an der Hauswand gefüllt wird. Welch wahnwitzige Gewinnspanne!
Im Steirereck wird auch das Bier selbst gebraut. Aber was wäre ein steirisches Lokal ohne Wein? Heimischen Wein kann der Gast sich selbst im Weinkeller holen, der wiederum ein Felsenkeller ist, in dessen Quellenteich Forellen und Krebse schwimmen. Um in den Weinkeller zu gelangen, muss der Gast erst mal über einen Steg über den Teich balancieren…

Keine Angst, es geht auch einfacher. Das gesamte Steirereck ist ein Marktplatz. An allen Ecken und Enden werden Weinflaschen präsentiert – in toller Auswahl, zu vernünftigen Preisen und stets mit einem flotten Spruch versehen. Echte Spitzenweine sind darunter, von Top-Winzern wie Stiegelmar oder Kracher, die Flasche auch mal für 200 Mark, aber all diese Kostbarkeiten wie auch die Schnäppchen kann man anschauen, anfassen, in die Hand nehmen. Da kommt die alte Vertreterweisheit zu Ehren: Was der Kunde in Händen hält, ist zu 80 Prozent schon verkauft. Wenn man jetzt noch weiß, dass es all diese Weine nicht nur flaschenweise gibt, sondern auch im offenen Ausschank, dürfte klar sein, dass im Steirereck Wein in rauhen Mengen verkauft wird. Was auch Wirt Heinz Reitbauer bestätigt: „Im Schnitt verkaufen wir pro Woche, also zwischen Donnerstag und Sonntag, rund 500 Flaschen.“

Wie man so wertvollen Wein einfach rumliegen lassen kann? Ganz einfach: Alle Flaschen sind mit Kapseln gegen Diebstahl geschützt (wie sie zum Beispiel auch an Kleidern in Modegeschäften hängen). Der Gast kann die Flaschen begutachten, sie an seinen Platz mitnehmen und dort öffnen lassen oder kaufen und einpacken lassen. Aber so einfach unter der Hand mitnehmen geht nicht, denn dann schlagen die Melder bei den Ausgängen des Lokals Alarm.

So, jetzt pressiert’s aber! Die anderen Gäste hatten uns eh‘ schon gefragt: „Seid’s schon aufm Klo gewesen?“. Oder erklärt: „Ihr dürft Euch die Toilette auf keinen Fall entgehen lassen!“ Also, auf zum stillen Örtchen. Wobei – so still geht’s da gar nicht zu. Sind wir überhaupt richtig? Beim Eingang fehlt eine Tür, die man auf- und zumachen könnte. Und dort hinten steht doch eine Frau. Aber, die bewegt sich nicht! Die Frau ist eine lebensgroße Puppe. Wer an Ihr vorbei geht, kommt endlich ins Pissoir. Genauer gesagt: Du stehst direkt vorm Felsen, davor eine Glaswand, auf der Wasser runterrinnt. Unter deinen Füßen läuft das Wasser ab, eine Rinne suchst du vergebens. Man(n) pinkelt an die Glaswand und hat das Gefühl, unter einem rauscht der Wildbach vorbei. Und die erotischen Fotos an der Glaswand sind das i-Tüpfelchen der gewagten WC-Landschaft. Beim Rausgehen passiert es häufig, dass man auf unbeteiligt schauende Frauen trifft, die dankbar sind auf den Hinweis: „Ihr könnt ruhig reingehen und es Euch anschauen, es ist grad keiner drin.“

Was beim Rundgang durchs Steirereck noch so alles ins Auge springt: Die Barhocker sind eine Schau (man sitzt auf alten Traktorsitzen!), die Beleuchtung ist eine Schau (von der Decke hängt ein langes Eisenrohr runter, in dem innen eine Lampe befestigt ist), die edleren Sitzecken sind eine Schau (Stühle mit Stoff überzogen – einfach, aber wirkungsvoll), und, und, und…

Die Getränke im Steirereck kommen weitgehend aus eigenen Quellen wie das Wasser, sind hausgebraut (Bier), frisch gepresst (Säfte) oder „Söwa-Brennd“ (wie Kriecherl, Williams, Kirsch-Royal oder Rotes Blut). Beim Essen dominiert die steirische Küche, „Unsere Küche ist ländlich, aber nie plump“, heißt es bei der Familie Reitbauer. „Das Brot wird von sieben Bäuerinnen der Gegend in alten Holzöfen gebacken. Das Fleisch ist bestes Styria-Beef und Steireck Lamm. Butter und Topfen kommen vom Nachbarbauern, die Forelle vom Nachbarfischer, der Hummer vom Nachbartaucher, nein Unsinn, der kommt von weiter her.“ Warum es im Steirereck Hummer gibt (zum Kennenlernpreis für 4 Personen, pro Person 99 Schilling)? O-Ton Reitbauer: „Weil wir unseren Gästen bei Bedarf einen kleinen Abweg aus dem Rustikalen erlauben wollen. Oder sie ans Nichtrustikale gewöhnen, damit sie vielleicht mal ins Wiener Steirereck kommen.“

Damit hat alles angefangen! In Wien gehört das „Steirereck“ der Wirtefamilie Reitbauer seit Jahren zu den Topadressen für österreichische Küche auf höchstem Niveau. Da lag es nahe, die Gäste aus Wien und aller Welt in die steirische Heimat der Familie Reitbauer einzuladen – in ein zweites „Steirereck“ mit authentischem Ambiente. Vor dreieinhalb Jahren öffnete die Filiale, die rund 200 Gästen Platz bietet, ihre Pforten. Und diese Plätze sind von Donnerstag bis Sonntag heiß begehrt. Woher die seltsam anmutenden Öffnungszeiten kommen? „Wir müssen uns ja weiterhin um unser Wiener Lokal kümmern, das von Montag bis Samstag geöffnet hat“, so Heinz Reitbauer.

Wer die weite Reise mit Ferrari, Käfer oder Hubschrauber zum Pogusch macht, wird mit einem Rundumangebot belohnt. Der „Bründlwanderweg“ lädt zum Entspannen oder zum Verdauungsspaziergang ein. Wer nach einer langen, bzw. kurzen Nacht nicht mehr weg möchte, für den organisiert die Familie Reitbauer Übernachtungen in Romantikzimmern in der unmittelbaren Umgebung. Und im Steirereck ist ständig was los: „O’gstochen ham a“, heißt es beispielsweise am Donnerstag. Am Sonntag werden die Gäste morgens zum „Berg-Frühstück in die Sterzhütte“ eingeladen, abends heißt das Motto „“Restl-Essen“ (schließlich hat das Steirereck dann drei Tage Ruh‘). Neben dem Wein können die Gäste viele andere Produkte mit nach Hause nehmen („Fix & Fertig Produkte vom Steirereck“).
Egal, ob man ein paar Stunden oder ein Wochenende im Steirereck verbracht hat: Hinterher braucht man einige Zeit, um alle Eindrücke zu verarbeiten, um selbst als Gastro-Profi erst so richtig zu verstehen, wie genial dieses Konzept ist.

Sinnbild für die Gastlichkeit ist das legere „Griaßdi“, das jedem Gast wie eine freundliche Waffe entgegengeschleudert wird, egal ob er mit dem Hubschrauber oder mit dem Fahrrad ankommt. Mit „Griaßdi“ beginnt der tolle Spruch auf der Begrüßungs-Tafel, „Griaßdi“ steht auf den Servietten, „Griaßdi“ tönt es an allen Ecken und Enden und bei jeder der eleganten Verkaufsstellen, an denen der Gast sein Geld los wird. Aber wer zum Abschluss den Gemischten Teller von Eis & Sorbet (Kürbiskern, Milchschokolade, Tahiti-Vanille, Sauermilch und Erdbeere) löffelt und dazu ein Glas 97er Beeren-Auslese vom Süßweingott Kracher schlürft, der fühlt sich wie im Paradies. – Pfiürdi, Sorgen, Griaßdi, Steirereck! So einfach wird Gastronomie zur Goldgrube.

link: www.steirereck.at

Erschienen im Gastronomie-Report 8/1999

Foto: gastrep

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