Projekt Beschreibung
Gasthaus zur Knödelwerferin, Deggendorf
Wie Geschichte zu gelebter Gastronomie wird.
In der Schlachthausgasse in Deggendorf steht eine stämmige Bürgerin im mittelalterlichen Gewand und wirft mit Knödeln um sich. Ihre bronzene Hausmannskost ist leider für den Verzehr völlig ungeeignet. Aber wem ihr Anblick Appetit macht, muss nicht lange darben: Gleich ums Eck am Marktplatz tischt das „Gasthaus zur Knödelwerferin“ die beliebte Spezialität in den verschiedensten Variationen auf.
Schon erstaunlich, wie eine unsinnige Behauptung eine unkontrollierbare Eigendynamik entwickeln kann, bis sie schließlich zur Wahrheit wird. Gehen wir kurz zurück ins 19. Jahrhundert: Zu der Zeit soll ein Fremder Deggendorf den Beinamen Knödelstadt verpasst haben, weil ihn die am Rathaus ausgestellten Prangerkugeln an Knödel erinnerten. Das Geschwätz verbreitete und hielt sich hartnäckig, so sehr sich die Deggendorfer auch dagegen verwehrten. Irgendwann ließen sie es einfach sein, akzeptieren ihren Ruf als Knödelstadt und unternahmen nun im Gegenzug alles, um tatsächlich zur Knödelstadt zu werden.
Aus den Prangerkugeln wurden Knödel und eine passende Sage wurde im Zuge der Metamorphose zur Knödelstadt gleich mit ersonnen. Der zufolge belagerte ein kriegerischer Trupp aus Böhmen die Stadt und versuchte die Deggendorfer auszuhungern. Als ein feindlicher Späher über die Stadtmauer lugte, um die Verpflegungssituation auszukundschaften, wurde er von einer wütenden Bürgerin mit ihren frisch gekochten Knödeln beworfen. Daraufhin soll er berichtet haben, dass die Deggendorfer noch so viel zu essen haben, dass sie damit um sich werfen können. So zogen die Böhmen wieder ab.
Bis heute vermarkten sich die Deggendorfer als Knödelstadt und lassen sich dazu originelle Aktionen einfallen. Auf die Idee, zu Ehren der Knödelwerferin ein Gasthaus zu benennen, kam jedoch bis 2013 niemand – obwohl im Rahmen der Bayerisch-Böhmischen Kulturtage in Deggendorf schon allerhand gastronomische Aktionen über die Bühne gingen, wie z. B. ein großes Deggendorfer Knödelessen an einer 320 Meter langen Freiluft-Tafel vor dem alten Rathaus.
Auch Wirt Helmut Kurz ist nicht gleich auf die Knödelwerferin gekommen, obwohl die Skulptur in Sichtnähe steht. Während einer Wanderung mit Freunden sann man über einen passenden Namen für das neue Gasthaus nach, das in der Deggendorfer Schlachthausgasse öffnen sollte. „Gasthaus zur Knödelwerferin schien uns erst so banal, dass wir es fast verworfen hätten“, erinnert sich Kurz. Aber glücklicherweise erkannte er schnell das Potenzial. „Wenn man den Namen einmal gehört hat, vergisst man ihn nie wieder – und die Leute haben sofort ein Bild im Kopf“ – so seine damaligen Überlegungen. Besser kann Werbung gar nicht funktionieren.
Außerdem ließ sich der Name natürlich kulinarisch nutzen. Kurz dachte dabei nicht nur an verschiedenste Knödelgerichte, sondern auch an Deggendorfs Geschichte und Knödelaffinität, die bestehende Kulturpartnerschaft mit Böhmen, an gemeinsame Aktionen und viele andere Möglichkeiten, an die ein Gasthaus mit diesem Namen anknüpfen konnte. Und nicht zuletzt liebte er die Geschichte der Knödelwerferin: „Es ist doch großartig, wenn Konflikte mit Knödelwerfen bereinigt werden können!“ Fazit: Jeder andere Name für sein neues Gasthaus wäre verschenktes Potenzial gewesen.
Dazu kommt, dass die Knödel derzeit eine richtige Renaissance erleben, wie nicht zuletzt der Erfolgskurs der „KnödelConnection“ zeigt. Deren Geschäftsmodell – Spezialist für alle bayerischen Beilagen – hat in der Gastronomie großen Anklang gefunden.
Wer jetzt bei der „Knödelwerferin“ nur an Knödel, Knödel, Knödel denkt: Ganz so sieht die kulinarische Realität in dem Deggendorfer Gasthaus doch nicht aus. Zwar stehen Knödel auf der Karte, in verschiedensten Variationen als Beilage, als Hauptgericht, würzig oder süß, mit Kartoffeln oder Semmeln, klassisch und punktuell auch mal flippig. „Aber nur auf die Knödel ausrichten wollte ich das Gasthaus nicht. Dafür ist es zu groß (200 Plätze auf zwei Etagen, weitere 100 Plätze draußen) und das machen die Deggendorfer auch nicht mit“, so der gelernte Koch Helmut Kurz. „Reines Knödelessen wie im Innviertel ist bei uns einfach nicht üblich, Knödel sind hier vor allem eine Beilage. Natürlich lockt der Name Touristen und Knödelfans an, die ganz gezielt zu uns kommen, aber von diesen Gästen alleine könnten wir nicht leben.“
Vielmehr möchte Kurz ein möglichst breites Publikum ansprechen. Der Tag in der Knödelwerferin ist lang: Es geht um 9 Uhr mit Frühstück los, gefolgt vom Mittagstisch, nachmittags ist Kaffeezeit mit hausgemachtem Kuchen, dann das Abendgeschäft bis Mitternacht. Und der Knödel rollt fröhlich durch den Tag. „Außer bei Engpässen machen wir unsere Knödel zu 95 % selbst. Wir haben auch Convenience Produkte getestet, aber die selbst gemachten schmecken doch am besten“, erzählt der 49-jährige Wirt.
Eine Spezialität ist der „Deggendorfer Knödel“. Den gab es auch nicht wirklich, was die Deggendorfer aber nicht daran hindert, ihn in zwei Varianten zu verkaufen. Die Bäcker deklarieren verschiedene Pralinen und ein Biskuit-Gebäck als Deggendorfer Knödel. Die herzhafte Variante ist ein Knödel aus Brotteig mit Brotwürfel-Füllung. „Wir haben das „Originalrezept“ ausprobiert, aber der Knödel ist völlig untauglich für die Gastronomie“, lacht Kurz. „Der Knödel ist riesig und wird steinhart, wenn man ihn etwas stehen lässt. Wir haben deshalb unser eigenes Rezept des Deggendorfer Knödels entwickelt. Geschmacklich ist es an das „Original“ angepasst, aber eine lockere Semmelknödelmasse sorgt dafür, dass er auch bei etwas Standzeit richtig super schmeckt.“
Ganz von alleine rollt der Knödel natürlich nicht. „Man muss auch immer aktiv sein und sich ständig was Neues ausdenken“, so Helmut Kurz. Eine der jüngsten Aktionen war ein Knödel mit Lokalkolorit. Als im Zuge eines Bürgerentscheids über den Bau eines Hochhauses in Deggendorf debattiert wurde, tischte die „Knödelwerferin“ drei extra „hohe Knedl“ auf: einen Semmelknödel-Burger mit Schafskäsepflanzerl, einen Kartoffelknödel-Burger mit Fleischpflanzerl und einen Brezenknödel-Burger mit Frischkäse und Kresse.
Zu den regelmäßigen Aktionen des Gasthauses gehören Kochworkshops und der Musikantenstammtisch an jedem letzten Freitag im Monat. „Damit ist nicht Volksmusik mit ‚Uftata‘ und Schnulzentexten gemeint“, erklärt Kurz, „sondern ursprüngliche Musik, die zum Ende des 19. Jahrhunderts in unserer Region verbreitet war.“ Helmut Kurz ist großer Fan altbaierischer Musik und spielt selber Ziehharmonika und Böhmischen Bock, eine Art Dudelsack aus Böhmen.
Neben seinen musikalischen Ambitionen ist Kurz auch passionierter Jäger – ganz zum Wohle seiner Gäste. „Bei mir kommt ausschließlich heimisches Wild auf die Speisekarte und ich freue mich jedes Jahr, wenn ich den ersten Maibock erlegen kann und anschließend zubereiten darf“, so der Wirt. Dass es dazu Knödel gibt, versteht sich wohl von selbst – oder?
Runde Ideen
Deggendorf ist die reinste Fundgrube, wenn es um Ideen und Aktionen rund um den Knödel geht. In den 80er und 90er Jahren gingen die Deggendorfer z. B. gerne im Knödelexpress auf Reisen. Zu besonderen Anlässen wurden Sonderzug-Reisen nach Rom oder in die Toskana organisiert. Tollen Stoff bot auch die Ausstellung „Geschichte zum Anbeißen“, die vor einigen Jahren die Leibspeise der Bayern und Böhmen verglich und einen Blick zu den Klößen nach Franken, der Oberpfalz und Thüringen, nicht zu vergessen nach Österreich warf. Es wurden viele wichtige Fragen geklärt: Wie weit kann man den Deggendorfer Knödel werfen? Was ist der Unterschied zwischen Knödel und Kloß …? Im Kinderprogramm wurden die Kids zu Knödologen ausgebildet, während die Erwachsenen an der VHS das „international anerkannte Deggendorfer Knödeldiplom“ erwerben konnten. Im Knödel stecken also nicht nur Früchte oder Brotkrumen!
www.knoedelwerferin-deggendorf.de
Dieses Gastro Konzept ist erschienen im Gastronomie-Report 8/2015
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Foto: RibWich