Projekt Beschreibung
Andechser-Zelt, Tief-im-Wald-Bar, Tollwood-Festival
„Hing’schaut – zug’hört – umg’setzt!“
Ob Stadl oder Stadion, Garten oder Gastro-Zelt: Wer auf sich hält, macht jetzt ein Fest oder Festival. Ob Hobby-Wirt oder Profi: Essen und Trinken verkaufen sie alle. Aber nicht jeder steigert seinen Umsatz jährlich im zweistelligen Bereich. Wie schafft das Wirtin Viktoria Raith auf dem Münchner TolIwood-Festival?
Allein schon die Besetzung des Serviceteams: Da kümmern sich eine Chirurgin, ein Zimmermann, ein Kettensägenkünstler und jede Menge anderes kunterbuntes Volk um das Wohl der Gäste. Die Wirtin war lange im Künstlermanagement tätig, hat Orchester in Russland betreut, Tourneen durch ganz Europa organisiert und anschließend die Mongolei bereist, über die sie ihr erstes Buch geschrieben hat. Reisen bildet, aber reicht das, um ein Bierzelt zu übernehmen?
Erst mal zu den Fakten. Mit 800.000 Besuchern zählt das Tollwood-Festival zu den Top-Ereignissen im Münchner Veranstaltungskalender. Zu Essen & Trinken gibt’s an jeder Ecke, gastronomisches Zentrum aber ist das „Andechser-Zelt“, das während der 3-wöchigen Dauer (heuer vom 14.6.-8.7.) einen Durchlauf von ca. 150.000 Menschen hat. 1995 hat Viktoria Raith dieses Zelt übernommen. „Bis zum Jahr 2000 haben wir den Umsatz verdoppelt“, so das Fazit der Wirtin, „dank jährlicher Zuwachsraten im zweistelligen Bereich.“ Allein an Bier fließen jährlich ca. 450 Hektos durch die durstigen Kehlen der Tollwood-Besucher.
Rückblick: Auch das Mega-Festival am Rande des Olympiaparks hat mal klein angefangen: alternativ, chaotisch, liebenswert – und war für die Münchner Brauereien kein Thema. Allein die Brauerei Andechs bewies Weitblick. Die Klosterbrauerei unterstützt das Festival seit 9 Jahren und liefert ihr Bier. Zurück aus der Mongolei wurde Viktoria Raith von Tollwood infiziert und 1994 Pressesprecherin. Mit Gastronomie hatte sie da noch wenig am Hut, aber Gespür genug, um zu erkennen, daß sich im Gastro-Zelt einiges ändern muß. „Mich hat gestört, daß die Mitarbeiter ziemlich unfreundlich und die Schlangen so lang waren, daß die meisten Gäste nur warmes Bier bekamen“, erzählt Viktoria Raith. „All das gehörte seit Jahren zum Charme von Tollwood irgendwie dazu. Aber die Schlangen wurden Jahr für Jahr größer. Und ich fand, man darf nicht ewig auf die Geduld der Besucher hoffen.“
Kurz entschlossen übernahm sie das Zelt. Was als Job für ein Jahr geplant war, entwickelte sich schnell zur Berufung. Drei Dinge änderte Viktoria Raith: Sie gab dem Baby einen Namen, scharte Mitarbeiter um sich, die zu ihr und zueinander paßten und – nicht zuletzt – sorgte sie für kaltes Bier.
Schön der Reihe nach: Unter der Regie der 49-jährigen Allgäuerin wurde aus dem namenlosen Zelt das „Andechser Zelt“. „Meine erste Überlegung war. Da gibt’s auf dem Tollwood-Fest ein Bier mit Kultcharakter, und kaum ein Mensch weiß das“, erinnert sich Viktoria Raith. „Das wollte ich ändern.“ Kleine Ursache, große Wirkung! Mit dem eigenen Namen stiegen Bekanntheit und Beliebtheit exorbitant an. Und sei es nur, weil Hunderttausende von Tollwood-Besuchern plötzlich einen Ort hatten, an dem sie sich verabreden konnten. „Wir treffen uns beim Andechser Zelt“ wurde schnell ein geflügeltes Wort in München. Nebenbei bemerkt. Der Brauerei hat diese Entwicklung ganz gut gefallen.
Weg mit dem Schaum!
Für arrogante Schnösel war im Andechser Zelt kein Platz mehr. Die Quereinsteigerin Raith setzte beim Service (mit Selbstbedienung) auf Freunde und Freunde von Freunden. Zusammen kam ein Haufen von Quereinsteigern: eine Opernsängerin, Akrobaten vom australischen Circus Oz, eine Mutter, die für Tollwood Auszeit von der Familie nimmt, etc. Das waren, zugegeben, keine Profis, aber Leute, die Lust hatten auf drei Wochen Andechser Zelt, die Engagement und Geduld mitbrachten. „Allein, bis wir unserem Australier beigebracht hatten, daß es hierzulande nicht üblich ist, das Glas vollständig bis zum Rand zu füllen und so lange nachzuschenken, bis fast kein Schaum mehr darin Platz hat, dauerte es einige Tage“, erzählt Viktoria Raith.
Keine Geduld hatte die neue Wirtin bei der Kühltechnik. Sie fragte bei den Experten von der Fa. KGV nach, warum früher das Bier zu warm war. Die Profis wußten die Antwort, nur hatte sie vorher keiner gefragt: Der Weg vom Container bis zum Zapfhahn war zu lang. Da gehörte eine Begleitkühlung her. Also haben Viktoria Raith, ihre Leute und ein Helfer von KGV einen Graben angelegt, um die Bierleitung durchgängig kühlen zu können.
Kurzer Einschub: Fragen kostet nichts. Mag sein, dass eine (gar nicht so) schwache Frau leichter Helferinstinkte weckt als beispielsweise ein 2-Meter-Gastronom. Viktoria Raith ist mit der Einstellung, einfach zu fragen, wenn Probleme auftauchen, bislang meist recht gut gefahren. Die Geschichte mit der Bierkühlung ist da nur ein Beispiel. Als es bei der „Tief-im-Wald-Bar“ ab 1996 darum ging, tolle Dekoteile zu organisieren, hat Viktoria Raith mit Erfolg beim Jagdmuseum in München nachgefragt, ob sie nicht ein paar Exponate ausleihen könne. Die Hilfsbereitschaft geht inzwischen so weit, dass Förster aus dem Allgäu von sich aus bei der Wirtin anrufen, wenn sie glauben, einen tollen, verwachsenen Baum für die Tief-im-Wald-Bar entdeckt zu haben.
Jetzt kommt zum ersten Mal ein großes ABER. Aber die Raith hat’s einfach, dürfte so mancher Wirt aus Vaterstetten, Mühldorf oder Waldkraiburg denken. Die braucht bloß Tollwood sagen, dann geht fast alles von selbst. Tollwood ist chic, Tollwood ist „mega-in“. Da wollen die hübschen Bedienungen hin und sogar der Museumsdirektor entdeckt sein Herz für die Gastronomie. Wenn unsereiner da anruft, heißt es doch gleich: „Vorschriften, Vorschriften. Da kann ich ihnen nicht helfen.“
Einerseits ist der Name „Tollwood“ inzwischen sicher ein Türöffner. Andererseits: Wie viele „normale“ Wirte rufen so mir nichts dir nichts bei Museumsdirektoren an und fragen, ob sie für ihr nächstes Fest ein paar Stücke ausleihen dürfen. Frechheit siegt.
Ob im Andechser-Zelt auf dem Sommer-Tollwood oder in der Tief-im-Wald-Bar auf dem Winter-Tollwood, die freundliche, entspannte, legere Atmosphäre zwischen Gästen und Gastgebern ist sicherlich eine tragende Säule für den Erfolg. Weil guter, freundlicher Service so selten ist in der deutschen Gastronomie, hier noch ein paar Kernaussagen von Viktoria Raith:
„Ich bin kein Kontrollfreak, aber ich gebe die Richtung vor.“
„Jeder Mitarbeiter hat seinen Spielraum und kann eigene Ideen einbringen.“
„Die Mitarbeiter müssen sich von den Gästen nicht alles gefallen lassen. Wenn ihnen einer total blöd kommt, können sie ruhig auch mal raus geben.“
„Von Leuten, die nicht ins Team passen, muss man sich ganz schnell trennen.“
„Ich arbeite mit – auf allen Positionen.“ Klar ist das ein bunter, verrückter Haufen. „In den ersten Jahren haben wir oft bis 6 Uhr morgen weitergefeiert, wenn die Gäste draußen waren“, erzählt Viktoria Raith. „Einmal hatten wir zur Promotion große Orangina-Flaschen im Zelt. Da ist einer hineingeklettert und die anderen haben ihn durchs Zelt gefahren.“ – Nebenbei bemerkt: Ob Orangina oder im letzten Jahr Caiman: Tollwood ist ein toller Platz für Produkt-Einführungen.
Atmosphäre kommt natürlich auch von Ambiente. Und da sind die (Lebens-)Künstlerin Viktoria Raith und ihr Team in ihrem Element. Im Großen wie im Kleinen. Es macht einen Unterschied, ob die Tische und Bänke im Biergarten in Reih‘ und Glied aufgestellt werden oder so, daß sie zum Verweilen einladen – mit Inseln und Rückzugsräumen. Alles auf einer Ebene ist langweilig: Deshalb gibt es in und vor den Zelten von Viktoria Raith Aufbauten, Emporen, ein oben und unten, ein auf und ab. Und originelle Ideen: Bekanntlich fängt es pünktlich mit Beginn des Sommer-Tollwood zu regnen an und hört am Ende des Festivals wieder auf. Was macht Viktoria Raith? Einmal ließ sie im Biergarten Flöße bauen, so dass mitten in den Riesenpfützen Isar-Romantik aufkam.
Mit besonderer Liebe wird die „Tief-im-Wald-Bar“ bestückt – mit verwachsenen, bemoosten Bäumen, mit Hirsch und Reh‘ (aus dem Museum!) und mit wirklich ausgefallenen Kunstwerken. Im letzten Winter hat der Artist und Allroundkünstler Patrick Brennan aus zwei gigantischen Baumstämmen mit der Kettensäge eine Krippe mit Ochs und Esel geschaffen.
Hat Tollwood nicht auch mit Kunst zu tun? Aber sicher doch. Live-Auftritte von Künstlern sind ein weiteres wichtiges Kennzeichen der beiden Zelte von Viktoria Raith. Das Programm spiegelt die Bandbreite des Publikums wieder. Da finden die Feldmochinger Blasmusiker genau so ihren Platz wie die Schwulen Philhomoniker. Fünf bis sieben Prozent des Umsatzes läßt die Wirtin für die Kultur springen, die für die Gäste kostenlos ist. „Um im Andechser Zelt auftreten zu können, kommen mir die Künstler bei der Gage entgegen, sonst wäre so ein großes Musikprogramm gar nicht möglich“, so Viktoria Raith.
Damit auch leisere Töne auf dem Festival eine Chance haben, gibt es inzwischen ein „Nebenzelt“, genannt „Lounge“. Dort werden beispielsweise Lesungen angeboten, aber auch verrückte Dinge wie ein „Kasperltheater für Erwachsene“. Das war im letzten Winter total ausverkauft – und nebenbei ein Wahnsinns-Multiplikator. „Ich war im Erwachsenen-Kasperltheater“, das mußte jeder Besucher all seinen Freunden und Bekannten natürlich gleich weitererzählen.
Ein weiteres Zusatzzelt im Winter ist den Kinder vorbehalten. Im ersten Jahr war das Kinderprogramm direkt in der „Tief-im-Wald-Bar“ beheimatet. Die Kids kamen damit ganz gut zurecht, das Problem waren eher die Erwachsenen, die nach 18 Uhr teilweise kaputt machten, was die Kinder nachmittags gebastelt hatten. Im eigenen Zelt – in der Kindermitmachwerkstatt, betreut von der Pädagogin und Künstlerin Petra Kühnholz – kommen die Kinder auf ihre Kosten, und die Eltern nebenan in der Bar.
Weg vom reinen Bierzelt
Nicht, daß Viktoria Raith keine Fehler machen würde. Im ersten Jahr als Wirtin war ihre Devise: Nur Bier im Andechser Zelt. „Aber ich habe eingesehen, dass sich die Wünsche der Gäste ändern“, so die 49-jährige. Im 2. Jahr gab’s auch Wein. Und in den letzten Jahren hat sich das Andechser Zelt vom reinen Bier-Zelt zum „Bier-Bar-Café-Kommunkationszelt“ gewandelt – allerdings nicht ohne Umstellungsprobleme. „Im letzten Jahr hatten wir auf der einen Seite erstmals eine kleine QBar für Cocktails und Kaffee und auf der anderen Seite die traditionelle, lange Bierbar“, so Raith. „Mit dem Ergebnis, dass an der „kleinen Bar“ stets mehr los war als an der „großen Bar“. Personell konnte ich da noch reagieren, aber von der Logistik her war es unmöglich, das gesamte Zelt umzustellen.“ Das wird im nächsten Jahr passieren.
Für ihre Lernfähigkeit hat die Allgäuerin aus Passion einen schönen Spruch parat: „Hing’schaut, zug’hört, umg’setzt!“
Das war ein wunderschönes Schlußwort, wenn da nicht das zweite große ABER wäre. – Denkt sich jetzt nicht der eine oder andere Leser: Aber die hat’s leicht. Die steht nicht 10, 12 oder 14 Stunden täglich in der Gastromühle. Die kann sich auf drei Wochen im Sommer und vier Wochen im Winter konzentrieren und da all ihre Energie, ihren Enthusiasmus und ihre Ideen reinstecken. So schön möchte ich es auch mal haben.
Stimmt alles, aber genau darin liegt das Erfolgsgeheimnis von Viktoria Raith – aber auch von vielen anderen Fest- und Festivalwirten. Anders gesagt: In unserer Serie „Kampf gegen die Schwarzgastronomie“ geht es oft darum, dass Wirte mit Vereinen kooperieren müssen, um überleben zu können. Dieser Zwang zur Zusammenarbeit könnte auch als Chance begriffen werden. Vom Wirt das Know how, das Wissen über Schanktechnik, HACCP & Co, von den freiwilligen Helfern aus den Vereinen,das Engagement, die Begeisterung und die Ideen: Das wäre doch eine Basis, die Erfolg verspricht.
Erschienen im Gastronomie-Report 4/2001.
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Foto: Dlouhy/Tollwood GmbH