Projekt Beschreibung
Villa Flora München
Das Wirtshaus ohne Wirt – Wie sieht der Gastronomie-Betrieb der Zukunft aus? Über diese Frage haben sich schon viele kluge Menschen den Kopf zerbrochen – und sind zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. In München wird derzeit ein Konzept in die Tat umgesetzt, das in dieser Form wohl einmalig ist – „Das Wirtshaus ohne Wirt“.
„Der direkte Weg vom Hersteller zum Gast“ – mit dieser Idee will die Villa Flora ab Frühsommer‘ 96 für Furore sorgen in der Münchner Gastro-Szene. „Der klassische bayerische Wirt kann doch die Vielzahl der Aufgaben, die ihm sehr viel Zeit von seiner eigentlichen Arbeit wegnehmen, kaum noch bewältigen. Für ein Objekt unserer Größenordnung müßte er jede Menge Leute einstellen und dazu das kaum zu kalkulierende Risiko allein tragen“, so Thomas Leeb, der Geschäftsführer der OFM (Organization for Marketing) GmbH. Seine Gesellschaft hat in den letzten Jahren u.a. erfolgreiche Konzepte für die Münchner Lokale Bamberger Haus, Frundsberg und Max-Emanuel entworfen und umgesetzt.
Als Schauplatz für die Revolution in der Gastronomie-Szene dient ein historisches Gelände – die Villa Flora in Untersendling. Seit 1870 hat das Haus als Ausflugslokal gedient, und zwar in der damaligen Sendlinger Au, mitten im Grünen. Heute steht das denkmalgeschützte Gebäude im Spätbiedermeier-Stil direkt am Mittleren Ring – mit S-Bahn-Anschluß fast vor der Haustür. Wenn in diesen Tagen mit den Bauarbeiten begonnen wird, wird außen die Fassade liebevoll restauriert, innen entsteht ein transparenter, lichtdurchfluteter Anbau mit Gastraum (280 Sitzplätze) und Marktstraße. In dem über 4000 Quadratmeter großen Park mit altem Baumbestand werden 500 Sitzplätze im „Bürger-Biergarten“ entstehen. Geplant sind überdies u. a. ein Terrassenbiergarten. ein Herrgottswinkel, ein Hopfenwinkel und ein Kinderspielplatz.
Auf eigene Kasse & eigenes Risiko
Eine Gaststätte im Alt- Münchner-Stil samt Biergarten, aber ohne Wirt, wie paßt das zusammen? Für Thomas Leeb liegen die Vorteile auf der Hand: „Durch den direkten Weg vom Hersteller zum Endverbraucher wird der Zwischenhandel ausgeschaltet und ein schlankes, preisgünstiges Angebot für den Gast möglich.“ Anstelle eines, meist überlasteten und vielleicht auch überforderten Chefs wird es in der Villa Flora mehrere „kleine Chefs“ geben, die auf eigene Kasse und eigenes Risiko arbeiten und dementsprechend motiviert sein werden.
Und gerade in diesem Punkt steckt wohl jede Menge Sprengstoff für die herkömmliche Gastronomie. Man stelle sich nur einmal vor: Keine Brezenverkäuferin an ihrem Stand draußen im Biergarten denkt weniger ans Geschäft als vor allem daran, wann ihreSchicht beendet ist. Kein unfreundlicher Kellner und keine schlecht gelaunte Bedienung vergrätzen den Gast. Statt dessen trifft der Besucher in der Villa Flora an allen Ecken und Enden auf ein hochmotiviertes und freundliches Personal, das direkt am Erfolg des Betriebes partizipiert, da jeder sein eigener Unternehmer ist.
Das Motto lautet: „Die Meister in ihrem Handwerk tragen die gemeinsame Idee.“ Zu den Partnern, die derzeit zum Teil noch gesucht werden, gehören ein Bäcker, ein Metzger, ein Reinigungsservice, ein Spülservice, der Tischservice, ein Künstlerdienst sowie Anbieter, die für Getränke sowie die Sonderfläche verantwortlich sind. Zusammengehalten wird dieses System von einem Koordinator, dessen Aufgabe es ist, Synergieeffekte für alle Partner zu bündeln.
Wer jetzt sagt, klingt ja ganz interessant, aber arg theoretisch, für den einige Details: Als idealen Bäcker in der Villa Flora stellt sich Thomas Leeb beispielsweise einen dynamischen Bäcker mit Filialerfahrung vor. Die Zahl seiner Filialen sollte aber vier nicht überschreiten, damit der „Partner“ sich in dem neuen Projekt wirklich persönlich engagieren kann. Zum Sortiment sollten Backwaren, Gebäck, Kuchen/Dessert, Eis, Kaffee und Pizza gehören. Vorgesehen ist, daß der Gast (wie bei allen anderen Angeboten) zwischen Selbstbedienung und Bedienservice wählen kann. Beim Self-Service sollte sich das Preisniveau in den Regionen bewegen, die von Backshops vorgegeben werden. Der Umsatz, mit dem der Bäcker rechnen kann, dürfte im ersten Jahr bei etwa 400.000 Mark liegen.
Wichtig sind bei solch einem Konzept natürlich die Bedingungen, unter denen die verschiedenen Partner zusammenarbeiten, und die sehen so aus: Die selbständigen Partner schließen sich zu einer Gesellschaft zusammen, die wiederum als Konzessionsträger auftritt. Weitgehender Konkurrenzschutz, das Solidarprinzip und eine einheitliche Corporate Identity (Logo, Outfit) sind weitere Stichpunkte der Konzeption.
Wenn diese Idee so toll einschlägt wie sie klingt, hat Thomas Leeb dann nicht Angst, von seinen Kollegen als Totengräber des klassischen Gastronomen beschimpft zu werden? Der 40jährige hat da keine Bedenken: „Sinnvoll ist solch ein Konzept sicher nur bei großen Objekten. Für den klassischen bayerischen Wirt könnte es sogar eine Entlastung bedeuten, wenn er Teile davon übernimmt. Dann könnte er sich auch seinem Hauptanliegen, dem zufriedenen Gast, wieder mehr widmen.
Dieses Gastro Konzept ist erschienen im Gastronomie-Report 2/1995
Nachtrag: „Das Wirtshaus ohne Wirt“ bekam einen neuen Wirt, der allerdings auch bald wieder wechselte.
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