Projekt Beschreibung
Kneipen-Trio „Die WG“, „Sturmfrei!“ & „Kiez Kini“ in Aachen
Schöner wohnen in der Kneipe
Die Mama würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: „Ja Jungs, reicht es denn nicht mehr für ein paar gescheite Stühle? Und räumt doch mal wieder auf!“ Die Mama hat glücklicherweise nichts zu sagen in der WG. Das gepflegte „Chaos“ der Aachener Kneipe hat System, verleiht ihr Charme und Gemütlichkeit. Eine Kneipe so schön wie daheim in der Studentenbude, nur dass man sich nicht um die Getränke kümmern und später aufräumen muss.
Die beiden Aachener Gastronomen Jörg Polzin (49) und Holger Völker (40) haben „die Kneipe als erweitertes Wohnzimmer“ gleich auf die Spitze getrieben und eine ganze Wohnung draus gemacht. „Die WG“ ist quasi eine etwa 60 qm große 1,5 Zimmer, Küche, Diele, Bad-Wohnung. Die Einrichtung im Stil einer Studentenbude ist ein buntes Sammelsurium aus Möbeln verschiedenster Stilrichtungen, Haushaltsgeräten und zahllosen persönlichen Einrichtungsgegenständen. Nur die große Bar in der „Küche“ lässt erkennen, dass wir uns nicht in einer privaten Wohnung, sondern einer konzessionierten Kneipe befinden.
Platz ist in der kleinsten Küche
Wer in der Küche, dem ersten Raum der Kneipe, keinen Platz mehr auf der Eckbank oder einem Stuhl abkriegt, hockt sich auf die Fensterbank oder auch auf den Herd. Platz ist bekanntlich in der kleinsten Küche. Wobei die Küche noch deutlich größer ist als das hinten gelegene Wohnzimmer. Um sich dort niederzulassen, muss man sich bei voller Bude erst mal durch ein Durchgangszimmer (Studierzimmer Typ Maschinenbaustudent), einen schmalen Gang und die Mädchenecke kämpfen. Wem es gelingt, eine Sitzgelegenheit in dem kleinen Zimmerchen zu ergattern, erlebt dann aber Cocooning in Vollendung.
Obwohl die gefliesten Wände im Wohnzimmer (Überbleibsel des Vorgänger-Lokals) nicht sonderlich heimelig wirken, ist es immer proppenvoll. Besondere Reize üben neben der Wohnzimmereinrichtung u. a. ein alter Röhrenfernseher und ein DVD-Player aus, auf dem eigene Scheiben abgespielt werden können. Auf Nachfrage rückt Jörg (in der WG sind natürlich alle per Du) auch den alten Nintendo raus. Dann wird wie in Kindertagen Super Mario und Pacman gespielt. Kurzum, hier kommen Wohngefühl und Nostalgie aufs trefflichste zusammen. Noch dazu ist man ganz unter sich. Platz gibt es für 12 Gäste. „Aber wenn sich die Leute gut verstehen, haben wir manchmal auch 20 Gäste in dem Zimmer“, erzählt Jörg. „Man schnappt sich dann einfach einen der im Flur stehenden Klappstühle und setzt sich dazu.“
Wenn sich der Toilettenbesuch der Mädels unverhältnismäßig lange hinzieht, könnte es daran liegen, dass sie der „Deko“ erlegen sind und noch schnuppern oder „malen“ müssen. Vom Haarshampoo über den Föhn bis zu Nagellack, Parfüm und Make- Up gibt es im Bad praktisch alles, was frau so braucht und liebt. Auf dem Männerklo finden sich neben diversen Pflegeprodukten ein Rasierapparat und Rasierwasser. Selbst die Schränke sind keine leeren Platzhalter. Im Badezimmerschrank stehen Putzmittel, in den Kommoden finden sich verschiedenste Kleidungsstücke… Wer Bedarf an Wechselkleidung hat, weil im Gedränge ein Bier auf ihm gelandet ist, schaut einfach mal in die Schubladen rein.
Bei so viel interessanter Deko verschwindet natürlich auch das eine oder andere Teil. Wenn’s langsam leer wird, sorgen Freunde oder auch Gäste für Nachschub. So ändert sich fortlaufend die Deko in der WG. Jörg und Holger sehen den Schwund gelassen: „Was der eine nicht mehr brauchen kann, findet dann bei jemand anderem Verwendung.“ Um den Brandschutzauflagen nachzukommen, werden alle entflammbaren Dekoartikel mit Brandschutzspray behandelt.
Wer „Die WG“ das erste Mal betritt, wird sich wundern, wie man hier überhaupt eine Kneipe betreiben kann: so klein, die Räume schlecht geschnitten, der Gang so eng … Genau das bekamen Jörg und Holger von allen Seiten zu hören, als ihnen die Räumlichkeiten 2010 zu günstigen Konditionen angeboten wurden. Dass sie überhaupt einen Gedanken an den Laden verschwendeten, lag daran, dass sie bereits ein Haus weiter eine kleine (ursprünglich ganz normale) Kneipe betrieben. Für die neue Location war ihnen klar: Wenn, dann müssen wir etwas Ungewöhnliches machen, das auf die Raumsituation zugeschnitten ist. Da lag in der Uni-Stadt Aachen eine Kneipe im Stil einer Studenten-WG ja nicht allzu fern.
Aber auch das Konzept wurde angezweifelt: „Hierher bekommt Ihr doch niemals Studenten und auch keine anderen Gäste“, bekamen die Wirte zu hören. Dazu muss man wissen, dass der Standort in der Promenadenstraße im Osten von Aachens innerem Stadtring liegt. Großer Schönheitsfehler: Die Promenadenstraße war total heruntergekommen und musste dringend saniert werden. Dazu hatte der hintere Teil der Straße wegen Drogen und Straßenstrich einen anrüchigen Ruf. Es war klar, wenn die neue Kneipe laufen sollte, musste auch vor der Tür was passieren.
Der OB wird’s richten
Mit seinen Sanierungswünschen für die Straße stieß Jörg bei der Stadt Aachen auf taube Ohren. „Wenn die nicht hören wollen, muss ich mich eben zu Gehör bringen“, dachte sich der gebürtige Kölner und kandidierte kurzentschlossen als Oberbürgermeister von Aachen. Darauf muss man erstmal kommen! Seine Kandidatur erwies sich nicht nur in puncto Straßensanierung als genialer Schachzug. Jörg Polzin und seine neue Kneipe waren weit vor der Eröffnung überall im Gespräch. Noch besser hätte die Werbung gar nicht laufen können.
Trotzdem überließen die beiden Kneipenwirte nichts dem Zufall. Um möglichst viele Gäste in die neue Kneipe zu bekommen, sollte „Die WG“ am „Tag der Shuttle-Party“ eröffnet werden. Im Optimalfall konnten sie sprichwörtlich auf Busladungen von Gästen hoffen. Bei der Shuttle-Party gibt es für 6 Euro freie (Rund)Fahrt mit einem Sonderbus zu den teilnehmenden Gastro-Betrieben. So können die Partygäste in einer Nacht etwa 10 verschiedene Locations in Aachen kennenlernen und kommen auch bei höherem Alkoholpegel sicher durch die Nacht. Nachdem es im Vorfeld schon viel Gerede über „Die WG“ gegeben hatte und alle neugierig waren, fielen die Gäste zur Eröffnung regelrecht wie Heuschrecken ein.
Eröffnung mit Totalschaden
„Der Abend war ein totales Desaster“, erinnert sich Holger. „Wir hatten ja keine Erfahrung, was bei der Party abgeht und was auf uns zukommt. Es war so voll, dass zeitweise gar nichts mehr ging und keiner mehr rein oder raus, geschweige denn durchkam.“ Eine Woche lang hatten die Beiden Tag und Nacht geschuftet und „Die WG“ komplett in Eigenarbeit renoviert und liebevoll eingerichtet. Wobei Jörg, der nebenbei auch noch eine Werbeagentur mit sechs Mitarbeitern leitet, ständig zu Terminen in Sachen Oberbürgermeister-Kandidatur musste. Als die letzten Partygäste in bester Stimmung um fünf Uhr morgens abzogen, war die frisch eröffnete WG eine Abrissbude, die Tischplatten abgerissen, die Deko zertrampelt am Boden…
Jörg, der nicht neuer Oberbürgermeister von Aachen wurde, aber immerhin 2 % der Stimmen bekam, berichtet weiter über die Horror-Eröffnungsnacht: „Holger war nach all der Schufterei völlig fertig. Aber wir hatten zusätzlich das Problem, dass um 10 Uhr die Hygiene-Abnahme durch die Stadt erfolgen sollte. Also Zähne zusammenbeißen und aufräumen.“ Als dann ausgerechnet die „allerpingeligste“ Kontrolleurin von ganz Aachen in der Tür stand, war auch Jörg am Ende. „Ich hab ihr so leidgetan, dass sie mich mütterlich getröstet hat, es sei doch alles sauber und der Rest wird schon wieder…“
Die Lehre aus der Eröffnungsfeier: Die Einrichtung wurde abbruchsicher optimiert, die Dekoration ist jetzt bombenfest oder abnehmbar montiert. Und wenn eine Party steigt, kommt alles raus, was im Weg steht oder zu Bruch gehen könnte. Bei Bedarf ist „Die WG“ binnen 30 Minuten leergeräumt und ready for party.
Schwein + 10 kg Kartoffeln
Eine der legendärsten Partys in der WG ist das Schweinebingo an jedem zweiten Donnerstag im Monat. Die Bude ist mit 100 bis 120 Gästen rappelvoll: Jörg im schicken silberfunkelnden Anzug macht den Showmaster, Mitarbeiterin Claudia ist die Assistentin Carola von Oink und zieht die Kugeln. Der Gast, der als erster eine Zahlenreihe auf seiner Karte zusammen hat, darf sich „BINGO!“ über einen großen Schweinebraten freuen: 2 – 3 kg frisches Fleisch, vakuumverpackt aus dem Großmarkt. Und mit der richtigen Beantwortung einiger leichter Quizfragen kann er diesen ungewöhnlichen Hauptgewinn sogar noch vergrößern.
„Hier kriegst du einen 10 kg Sack Kartoffeln dazu, und noch 5 kg Karotten und einen schönen Käsekuchen“, packt ihm Jörg wie ein Hamburger Fischverkäufer mit jeder richtig beantworteten Frage immer mehr obendrauf. Am Ende zieht der Gewinner mit einer Wochenverpfl egung von dannen. Die meisten Gäste kommen gleich mit Fahrrad, großen Tüten oder einer Karre zu den Bingo- Partys – falls sie Bingo-König werden.
Und die Kalkulation der Gastwirte? „Im Einkauf kostet der Gewinn etwa 80 Euro“, rechnet Jörg vor. Mit dem Verkauf der Bingokarten zu 50 Cent macht er keinen Gewinn. Es gehe vor allem um den Spaß, den seine Gäste und auch er selber haben. Aber rechnen tut es sich natürlich auch: Innerhalb von eineinhalb Stunden Bingo-Party macht „Die WG“ rund 700 Euro Getränkeumsatz, was mehr ist, als manchmal an einem ganzen Abend. Und eine tolle Werbung ist es zudem.
Es wird eng in der WG
Die verrückten Partys in der WG sprachen sich schnell herum. So sehr sich Jörg und Holger über den Erfolg freuen konnten, standen sie schon bald vor dem Problem, dass sie zu viele Gäste abweisen mussten. Der Platz reichte einfach nicht aus. Eineinhalb Jahre nach Eröffnung der WG, gestalteten sie deshalb auch ihre Kneipe in der Promenadenstraße 38 zu einer Wohnung um. Jedoch bekam das „Sturmfrei!“ einen eigenen Einrichtungsstil und präsentiert sich als grell bunte 70er Jahre Bar mit viel Orange in Wohnzimmer-Optik. Weil es hier mehr Lagerplatz gibt, ist die Getränkeauswahl und die Cocktailkarte etwas größer als in der WG.
Ein Jahr drauf ergab sich die Möglichkeit, noch einen dritten Laden (Hausnummer 46) in der Promenadenstraße zu übernehmen. „Dieses Mal wollten wir aber ein ganz anderes und etwas dezenteres Konzept“, erzählt Holger. „Da ich die Hamburger Kiez Kneipen sehr mag, haben wir genau dieses Thema aufgegriffen.“ Was ja auch ganz gut zum Ruf der Promenadenstraße passt. Im Vergleich zu den beiden „Wohnkneipen“ ist das „Kiez Kini“ größer und geräumiger und wird deshalb vor allem als Eventkneipe genutzt. Hier finden regelmäßig Partys quer durch alle Musikrichtungen statt, es gibt Live-Musik Auftritte, Comedy- Abende, Lesungen oder Meierturniere (Würfelspiel).
Und dann gibt es natürlich noch die Spezialpartys, die es sonst nirgendwo gibt. Dazu gehören die dampfende 1-Stunden Party, die Lichtaus-Party mit Stirnlampen oder die Kopfhörer- Party. Einige dieser Events hat Jörg inzwischen schützen lassen, aber darüber werden wir in den nächsten Ausgaben des Gastronomie- Reports noch ausführlich berichten!
Neben verschiedenen Bieren sind die knallbunten Wodka-Shots zu 1 Euro ein Markenzeichen der drei Kneipen. Der „Frosch“ ist z. B. Wodka mit Waldmeister + ein Gummifrosch auf dem Zahnstocher. Der blaue Schlumpf mit entsprechender Süßigkeit schmeckt wie alkoholisierte Ice-Bonbons und die „Pilzvergiftung“ kommt in einer tiefschwarzen Johannisbeerfarbe ins Glas. Dann gibt es noch den „Mexikaner“ als scharfe Mini- Variante einer Bloody Mary. Und zur Shuttleparty im April, die inzwischen zum regelmäßigen Programm gehört, haben sich Jörg und Holger den „Flamingo“ und die „Biene“ ausgedacht.
Die Namen, die Farben, der Geschmack und der attraktive Preis der Shots verleiten nicht nur zu manch fröhlicher Trinkrunde. Am Wochenende kommen auch viele zusätzliche Gäste noch schnell zum Anglühen auf einen oder zwei Shots vorbei, bevor sie in die Disko ziehen. Gäste, die sonst eigentlich an Kneipen vorbeiziehen!
Kneipenspaß mal drei
Geplant war es nicht, dass Jörg und Holger gleich drei Kneipen in der Promenadenstraße betreiben. Es hat sich halt so ergeben. Dass es auch noch ein Quartett werden könnte, wollen die Beiden nicht ausschließen. Vorteile ergeben sich aus der „Tür-an-Tür“-Lage zahlreiche. Dank der verschiedenen Konzepte und Stile können Jörg und Holger ganz unterschiedliche Gästegruppen ansprechen, nicht nur Studenten. Einige haben ihre Stammkneipe, finden es in der WG ganz toll, würden aber nie in das 70er Jahre Wohnzimmer im „Sturmfrei!“ einen Fuß setzen. Andere fühlen sich in allen drei Kneipen wohl und wechseln am Abend von der einen zur anderen.
Die Getränkeauswahl ist in allen drei Kneipen nahezu identisch, je nach Lagerkapazitäten fällt die Karte etwas größer oder kleiner aus. So lässt sich der Einkauf gut organisieren und kalkulieren. Geht in der einen Kneipe etwas aus, gibt es in den beiden anderen Nachschub. Ist es in der einen Kneipe rappelvoll, kann aus einer anderen ein Mitarbeiter als Springer geholt werden. Die insgesamt 10 Mitarbeiter wechseln regelmäßig ihre Arbeitsplätze. „So haben Stammgäste nicht jeden Abend die gleichen Gesprächspartner hinter der Theke und jeder kennt sich in jeder Kneipe aus“, beschreibt Jörg die Vorteile.
Apropos „Gesprächspartner hinter der Theke“, an die lautet Jörgs strikte Anweisung: „Wenn nur zwei oder drei Gäste da sind und nichts los ist, wird nicht geputzt, sondern sich mit den Gästen unterhalten!“ Schließlich kommen die nicht, um anderen beim Putzen zuzusehen. Noch langweiliger kann der Abend ja gar nicht werden. Wenn man dagegen in kleiner Runde Spaß hat, zahlt sich das deutlich besser aus als eine auf Glanz polierte Theke.
Drei Kneipen in der Promenadenstraße, das hat aber natürlich auch Schattenseiten. Alle drei Kneipen sind Altbau und damit sanierungsanfällig. Im Kiez Kini gab es im März 2016 schon den dritten Wasserrohrbruch und das frischverlegte Laminat war hinüber. „Das zahlt die Versicherung, aber wir haben wieder die Arbeit und den Ärger“, erzählt Jörg. Seine Erfahrung: „In solche Läden, noch dazu wenn sie einem nicht gehören, darf man nicht zu viel Geld und Arbeit reinstecken.“
Am Ende der Straße gibt es immer noch eine Drogenszene. So müssen die beiden Gastronomen ständig ein Auge drauf haben, dass ihre Läden sauber bleiben. Das kann bedeuten, dass auch mal hart durchgegriffen wird und Leuten Hausverbot erteilt wird. Bei Partys werden im Rahmen der Einlasskontrolle Alkoholtests durchgeführt. Zu diesem Zweck wurde ein professionelles Alkoholtestgerät angeschafft.
Was bei dem Kneipen-Trio nicht unter den Tisch fallen darf, ist der kleine Hinterhof der WG, den Jörg und Holger zum Mini- Biergarten gestaltet haben. Freiluftgastronomie ist in Aachen rar, es gibt auch nur eine Parkanlage im Zentrum. „Für Leute im Zentrum ist unser Biergarten wie ein kleiner Urlaub im Grünen“, freut sich Holger über den Zuspruch.
Die WG, Sturmfrei! und Kiez Kini haben jeden Abend ab 19 Uhr geöffnet. Nur sonntags ist geschlossen. Eine perfekte Gelegenheit, die nachbarschaftlichen Beziehungen zu pfl egen und sich für gelegentlichen Lärm zu entschuldigen: Sonntags wird der Hinterhof und der begehrte Platz im Freien den Nachbarn zum Grillen und Feiern überlassen. Geniale Platznutzung, oder? In Sachen geniale Partys, und wie man in einer Stunde 1.000 Euro Umsatz macht, gibt es im nächsten Gastronomie-Report noch einen Nachschlag aus der Promenadenstraße.
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Konzept aus August 2016
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Fotos: Dagmar Krutoff